Ich sitze an meinem Schreibtisch. Unausgeschlafen. Die Wörter zeigen sich nicht. Ich lausche nach draußen: es scheint zu regnen. Das Geräusch der Autos, die vor dem Haus vorbeieilen, ist lauter als sonst: das Spritzwasser der Reifen rauscht. Die Unaufhörlichkeit der Bewegung. Hier im Zimmer herrscht Stille.
Ich lasse meinen Blick wandern. Berge von Büchern und Papier, in Regalen, nebeneinander, aufeinander. Der Tisch vor mir dagegen relativ leer: einige wenige Hefte, das Faksimilie von Peter Handkes Notizbuch und eine CD von Maria Callas, Glanzbilder von Schmetterlingen, eine Ausstellungseinladung: Museum Morsbroich,Leverkusen, Aufschlussreiche Räume. Interieur als Portrait.
„Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“, hat Thomas Brasch geschrieben.
Wer mich wirklich erlebt, wer mit mir lebt, der kommt irgendwann auch in dieses Zimmer. Niemand ohne Erlaubnis hat es bis jetzt betreten. Da bin ich konsequent und stolz und vorsichtig.
Erinnerungen an die Ausstellungseröffnung tauchen unvermittelt auf: Schloss Morsbroich an einem regnerischen Vormittag, der Bürgermeister wird vom Chauffeur bis direkt vor die Schlosstreppe gefahren. Dorthin kommt nur noch eine gehbehinderte, ältere Besucherin mit ihrem Taxi. Alle anderen laufen vom Parkplatz über das alte Steinpflaster über den Schlossvorplatz, hinauf auf die Treppe, von der man eine schöne Aussicht hat auf Platz und umgebende Gebäude, und durch den Haupteingang. Der Eingangsbereich erscheint eng, Menschen möchten wieder hinaus und schieben sich an den neu Ankommenden vorbei, die in einer Schlange geduldig auf die Abgabe ihrer Garderobe warten. Dann öffnet sich der Raum zum Treppenhaus mit seinem hohen Geländer und den Zugängen zu den weiteren Räumen. Was bedeutet Raum? Freie Fläche. Zugestellte Fläche. Licht. Lichtführung. Fenster. Glühbirnen. Und in diesen Schlossräumen Bilder und Darstellungen von anderen Räumen mit ihren Interieurs. Interieur als Portrait, der Gedanke gefällt mir, Dinge als Stellvertreter für Menschen, Bewohner, Passanten. Für ihre intime Gedanken, Phantasien und Erfahrungen. Lässt sich der Besucher der Ausstellung auf einen Dialog mit ihnen ein, antwortet er mit seinen eigenen Phantasien, Gedanken und Erlebnissen?
Für mich eine ungewohnte Empfindung, fast lustige Erfahrung: in dicken,grauen, ausgeliehenen Filzpantoffel-Schlappen gleite ich wie auf einer Eisfläche auf einem flauschigen, schwarzen Teppichboden dahin, Wände und Decke sind ebenfalls schwarz gefärbt. Da kommt beim Dahinrutschen Oben und Unten ins Wanken. Gleichzeitig stehen die Dinge aber alle „richtig“ herum, die Vögel, die Ampel mit Vogel, die Betrachterin vor dem Fenster, eher ein Geist, verschleiert und vermummt in Weiß, als eine reale menschliche Figur. Claus Richters Inszenierung eines Vogelsammlers im Stil des Art Deco hat etwas Theatralisches, das gut in diese Schloss-Kulisse passt.
Einzelteile aus einem Sperrmüllhaufen an der Straße. Dinge, die andere Menschen aus ihrem Kontext gelöst haben und loswerden wollen. Der Fotograf Ralph Schulz sammelt diese Dinge nachts und dokumentiert die Einzelteile eines solchen Sperrmüllbergs in Plastikhüllen (Dokumentenhüllen).Mit den Fragen, wem diese Dinge wohl gehört haben und wo sie sich vorher befunden haben, stellt er dann die Einzelteile neu zueinander (alles immer nur aus ein und demselbem Sperrmüllhaufen). Es entsteht ein neuer Kontext. Was ist das für ein Mensch, der damit leben könnte?
Zeige mir dein Zimmer und ich sage dir, wer du bist. Simone Demandt hat das Interieur von Garagen fotografiert. Es scheint so intim wie der Inhalt von Damenhandtaschen, weg vom Repräsentationscharakter. Individuelle Flucht- und Freiräume vor der Krake Familie. Wie viel Überredungskunst es die Künstlerin wohl gekostet haben mag, ihren offenbarenden Blick in diese privaten Kosmen werfen zu dürfen? Erstaunlich viel „Freude am Leben“ (so der Titel der Fotoserie) hat sie dort gefunden. Noch lange sehe ich das kleine rote Indianerzelt mitten vor den Kacheln der Garagenrückwand vor mir.
Auf Gemälden dann unvermittelt Interieurs des Schlosses vor mir: ein Türrahmen, nur die Ecke vom Boden und seitlichem Rahmen, davor ein liegengelassenes Unterhemd, ein anderes (oder das gleiche?) hängt auf einem anderen Bild über dem Geländer eines ansonsten menschenleeren Treppenhauses. Es hat Ähnlichkeit mit dem Treppenaufgang des Schlosses, auf dem sich heute die Besucher schieben und drängeln. Die Leere auf dem Gemälde weckt die Sehnsucht nach mehr Bewegungsfreiheit. Ein weiteres Bild, wieder ein leerer Raum, ein Rucksack, wie zufällig am Eingang abgestellt, schwarz und real in seiner Präsenz. Hier ist jemand angekommen – und könnte doch sofort wieder aufbrechen: nichts ist ausgepackt, alles bereit zum Weitergehen. Bleibt dieser jemand vielleicht unbemerkt, hinter einer Tapetentür in einem kleinen, unscheinbaren Raum. Dort liegt auf dem Boden auf einer Matratze ein Mann, nackte Füße, ein Arm angewinkelt unter den Kopf geschoben. Der Raum vor dieser Tür ist sehr leer, ebenso der Raum, in dem ein kaputter Spiegel in einem weiteren Bild gezeigt wird. Er spiegelt weder Raum noch Betrachter, funktionslos, nur noch mit sich befasst, hat er die Jahre überdauert. Die Gemälde von Robert Haiss sind time capsules, Zeitboxen. Sie halten Zeit und Raum fest. Die Menschen haben ihre Dinge da gelassen. Wann war das? Heute, gestern, vor langer Zeit oder in der Zukunft? Zeitlose Bilder oder gefüllt mit vielen Zeiten, die Veränderungen minimal. Auf mehren Bildern: das Unterhemd, intim, auf der Haut getragen, im Bett nicht ausgezogen, erotisch. Die Hülle lässt den Körper erahnen. Und doch: das letzte Hemd kann man nicht mitnehmen, aber man kann sein letztes Hemd geben als Liebes- und Freundschaftsbeweis. Ist das Hemd dort liegen- und hängen gelassen worden oder kunstvoll achtlos drapiert? Wer war da anwesend?
Zwei Räume weiter zeigen auf den Fotos von Bernhard und Anna Blume die Dinge eine sehr lebendige Präsenz. Sie sind wild in Bewegung und aus ihrer angeraumten Ordnung ausgebrochen, attackieren sogar den Menschen im Zentrum von „Vasenekstase“, der gehörig aus dem Gleichgewicht gebracht zu sein scheint. Die Objekte mischen das gutbürgerliche Alltagsleben gehörig auf, reißen es aus seiner Routine. Die Blumes haben diese Kraft eher den Dingen als den Menschen zugetraut.
Als ich ein Kind war, habe ich mir oft vorgestellt, dass die Dinge in meinem Zimmer nachts lebendig wurden. Es war mir ein bißchen unheimlich, wenn ich die nächtlichen Schatten in meinem Zimmer beobachtete, aber sehr gern hätte ich meine Stofftiere, Puppen und Bücher bei ihrem nächtlichen Tun überrascht. Nur sehr selten habe ich das im Traum endlich tun dürfen. Nach diesem Ausstellungsbesuch wirkt mein Blick neuer und fremder auf mein Zimmer. Wie viel vergangene Zeit birgt es und welche? Welche Ideensammlungen finden sich in Bücherstapeln, Zeitschriftentürmen, CD Stapeln und Regalmetern? Wie viele kleine Dinge sind mir unentbehrlich geworden, weil sie für eine bestimmte Lebenserfahrung stehen? Ich habe Lust, auf Expedition zu gehen, schon heute Nacht.
Aufschlussreiche Räume – Interieur als Portrait – Museum Morsbroich, Leverkusen
noch bis 24. April 2016
mit Arbeiten von: Richard Artschwager, Miriam Bäckström, Anna & Bernhard Blume, Shannon Bool, Romain Cadilhon, Simone Demandt, Robert Haiss, Roy Lichtenstein, Mark Manders, Carlo Mollino, Claus Richter, Ralph Schulz, Andreas Schulze, Ene-Liis Semper, Matthias Weischer und Anrea Zittel